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Krankt es nur bei VW?



Der ehemalige Chef von Volkswagen, Martin Winterkorn, sagte am 20. 9. 2015 zu den seit geraumer Zeit in den USA bekannten Diskrepanzen zwischen dem Abgasverhalten seiner Autos am Prüfstand und im Straßenbetrieb: „Es tut mir unendlich leid, dass wir dieses Vertrauen enttäuscht haben. Ich entschuldige mich in aller Form bei unseren Kunden, bei den Behörden und der gesamten Öffentlichkeit für das Fehlverhalten.“

Fiktion und Wirklichkeit klaffen zunehmend auseinander


Unabhängig davon, dass diese Worte ohnehin kaum zur bewussten Täuschung passen, ist es freilich nicht gar so einfach. Im Laufe der Zeit wird sich der Schleier wohl noch etwas mehr lichten, wer wie viel von welchen Abgastricks wusste und inwieweit auch die Konkurrenz lediglich „legale Schlupflöcher“ der Abgasnormen genützt oder auch mit EDV-Tricks („Zykluserkennung“ bzw. „defeat device“) am Prüfstand anderes Abgasverhalten als im Realbetrieb suggeriert hat.

Tatsache ist, dass selbst dem Normalbürger und vor allem dem jüngere deutsche Dieselautos fahrenden Kunden schon länger aufgefallen ist, dass die für Umweltnormen und Steuerklassifizierungen angegebenen Normverbrauchswerte zunehmend an der Realität vorbei gehen (mit batterieunterstützten Verbrennungsmotoren, die als „Hybride“ langsam in der schweren, gut motorisierten und teuren Luxusklasse aufkommen, scheint sich das Spiel um eine Stufe erweitert zu haben und sogar die eine oder andere staatliche Förderung möglich zu sein).

Auch wenn höherer Kraftstoffverbrauch nicht notwendigerweise mit zunehmendem Ausstoß giftiger Schadstoffe gleichzusetzen ist, so ist zumindest der klimaschädliche CO2-Ausstoß direkt davon abhängig. Diesbezüglich besteht bei den Bürgern schon seit längerer Zeit der Verdacht, dass bei den Normwerten „getrickst“ wird. Die Diskussion über spezifische Schadstoffe und Feinstaub, die seit der Benzindirekteinspritzung nicht nur von Dieselfahrzeugen, sondern auch von Benzinautos ausgestoßen werden, ist bislang hingegen noch eher auf das Fachpublikum begrenzt.

Auch Behörden scheinen weggesehen zu haben


Staatlichen Behörden scheinen die „Tricks“ dabei bislang kaum negativ aufgefallen zu sein. Vielmehr nahm man entweder gedankenlos in Kauf, dass Fiktion und Realität auseinanderlaufen oder man hat sich nicht daran gestoßen, dass Autos hinsichtlich umweltrelevanter Aspekte einschließlich Besteuerung für den Prüfstand „optimiert“ werden (Spezialöle, abgeklebte Fugen, abgeklemmte Nebenaggregate, Überdruck in den Reifen, aber auch Getriebeübersetzung, Schaltempfehlungsanzeige, „start-stop-Automatik“ und „downsizing“ gehören zu den „üblichen“ Tricks „im Rahmen“ der Regeln).

Erst das Eingeständnis Volkswagens, dass die Fahrzeuge den Prüfstand erkennen und dann in einen Sparmodus verfallen, um die beste amerikanische Umweltklasse zu erreichen – während im Normalbetrieb bis zu 40-fach höhere Stickoxide ausgestoßen werden – hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Auch dieses Eingeständnis kam erst, als die Zulassung neuer Fahrzeuge in den USA auf dem Spiel stand. Das Problem musste damit nicht nur seit Jahren bei VW bekannt sein, sondern die Studie des International Council on Clean Transportation (ICCT) ist bereits 2014 erschienen und auch die seit 2013 involvierte amerikanische Umweltbehörde Air Resources Board hatte ihr auf entsprechende Gespräche mit VW folgendes Schreiben an VW vom 18. 9. 2015 bereits veröffentlicht.

Flexible Regelungen im Sinne der Wirtschaftspolitik


Auch wenn verschleierte Softwaretricks noch um eine Stufe schlimmer als das laufende Optimieren von Schlupflöchern sind, so muss sich nun auch die öffentliche Hand zu ihrer Verantwortung bekennen. Es passt in das immer offensichtlicher unehrlich werdende aktuelle politische System, dass man einerseits großartige Umweltleistungen bei Kongressen oder am Papier darstellen möchte, gleichzeitig aber die heftig lobbyierenden Großunternehmen mit hinreichend „flexiblen“ Regelungen berücksichtigt. Insoweit ist unabhängig von gezielten Softwaremanipulationen im Einzelfall das Schaffen irrealer Testroutinen samt zögerlicher Anpassung an realere Routinen ein Beweis für eine kurzsichtige und formalistische Sicht der Politik, die mit Ethos, Vernunft und Verantwortung kaum etwas gemein hat (freilich kann man darüber streiten, ob amerikanische und europäische Grenzwerte jeweils „ihre“ Industrie schützen wollen; Tatsache ist, dass in Europa zugunsten der Direkteinspritzungstechnologie unter Hintanstellung der gesundheitlichen Aspekte für die Allgemeinheit großzügigere Feinstaubemissionen zugelassen wurden).

Die Kooperation von Politik und Großindustrie schafft insoweit eine „win-win“-Situation, bei der Umwelt und Bürger vielfach übrig bleiben (das „Unverständnis“ für nationale Politik und „Europa“ kommt daher nicht von ungefähr – und sicher nicht von den Flüchtlingen). Offen ist auch, wie neben der monetären Kompensation für die Verschmutzung über Strafzahlungen durch VW der einzelne Kunde entschädigt wird, falls sein Fahrzeug im Zuge der gebotenen Nachbesserung im Sinne der vereinbarten Abgaswerte möglicherweise nicht mehr so gut „zieht“ und mehr verbraucht.

Ehrliche Umweltpolitik und Verzicht sind geboten


Es ist insoweit symptomatisch, dass dem Normalbürger der Betrieb bewährter, schön leuchtender, günstiger und giftarmer Glühbirnen mit typischerweise nur 60 Watt Leistung verboten ist, während SUVs mit übermäßiger Leistung zum Überwinden ihres Übergewichts (bald wohl auch elektrounterstützt und dadurch mit weniger fiktivem Normverbrauch) produziert und gefahren werden dürfen (beim ökologisch schon lange fragwürdigen Diesel kommen gegenüber Benzin auch Steuervorteile hinzu, die primär durch gutes Auftreten der Transportlobby erklärbar sind).

Auch gänzlicher Verzicht auf Neukauf wird ebenso wenig propagiert wie effektiver Leichtbau zwecks Ressourcenminderung bei Produktion, Nutzung und Entsorgung im Sinne eines gesamtheitlichen Ansatzes (Aluminium schneidet bei der Herstellung schlecht ab, Batterien bei Herstellung wie Entsorgung, während kompakte und leichte Fahrzeuge mit wenigen Sonderausstattungen in Kombination mit günstiger Ersatzteilversorgung auf natürliche Weise an Effizienz gewinnen).

In einer vernetzten Welt ist auch Transparenz auf technischer Ebene nötig


Es bleibt daher abzuwarten, inwieweit der „VW-Skandal“ sowohl bei Behörden als auch bei börsennotierten Unternehmen zu mehr Ehrlichkeit führt. Darüber hinaus ist aber auch mehr Offenheit auf technischem Gebiet gefordert: Während die Technik früher rein mechanisch war und später beim Einsatz von Elektrik und Elektronik noch in ihrer Funktion nachvollziehbar war, so haben in der vernetzten und mikroprozessorgesteuerten Welt von heute weder Kunden noch Werkstätten einen Einblick in die Funktionen ihrer Gerätschaften vom „Smartphone“ bis zum Auto.

Mit zunehmender Prozessorleistung erhöht sich die Gefahr, dass die in der „black box“ versiegelte Software ein Eigenleben hat, das weder im Sinne des Kunden, noch überprüfbar ist. Insoweit ist auch Quellcode-offene „open source“-Software ein Gebot der Stunde, damit nicht nur über „reverse engineering“, sondern von einem in der Programmiersprache gelernten Techniker die Funktionsweise der Geräte nachvollzogen und auf allfällige Fehler oder unerwünschte Nebentätigkeiten hin überprüft werden kann.





Ergänzung des aus Oktober 2015 stammenden Textes am 15. 2. 2016:
Wie so oft waren die EU-Bürokraten und -Normsetzer sehr kreativ, um den Schein des Umweltschutzes mit den Zielen der Industrielobby zu vereinen (bei den Befürwortern heißt es dann teils "Sieg der Vernunft", wobei der Unterschied zu Untätigkeit und Unvernunft nicht mehr allzu groß zu sein scheint).
Demnach werden ab September 2017 - also zwei Jahre nach den nicht mehr zu leugnenden und öffentlich bekannt gewordenen Schwächen der bisherigen Regeln aufgrund des VW-Skandals - immerhin die Stickoxidemissionenen von Dieselautos auch auf der Straße anstatt bloß am besonders manipulationsgefährdeten Prüfstand gemessen. Auf die Tatsache, dass die immer üblicheren Benzindirekteinspritzer ähnliche Probleme haben, scheinen die Bürokraten ähnlich wie auf die realistische Prüfung der Kohlendioxid- (und damit Verbrauchs-) -werte "vergessen" zu haben.
Außerdem wird selbst bei der Messung oder Plausibilitätsprüfung der "real driving emissions" von Diesel-Stickoxiden eine äußerst großzügige Toleranz gewährt: Bis Ende 2019 gelten gemessene 168 Milligramm für die EU-Bürokratie als gemäß Euro-6-Norm zulässige 80 Milligramm. Ab 2020 gelten dann "nur" mehr 120 Milligramm tatsächlicher Stickstoffausstoß als zulässige 80 Milligramm pro Kilometer. Grob darf also real drei Jahre lang mehr als das Doppelte des Zulässigen und dauerhaft "nur" das Eineinhalbfache des Zulässigen ausgestoßen werden, um den europäischen Umweltschutzvorgaben auf dem Papier zu genügen, während der Rest offenbar "zulässige Schummelei" darstellen soll.




Einen etwas kürzeren Text zum Thema finden Sie hier.




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Philipp Lust, 2016                         www.lust.wien